Italien
Italien; »Oinotria tellus«, das unsterbliche „Land des Weins“ – kein anderes Land, vielleicht nicht einmal Frankreich, verdient diese Bezeichnung, gibt es doch nicht eine der 20 italienischen Regionen, in der kein Wein angebaut wird; noch ein knappes Dreißigstel Italiens ist mit Reben bestockt, insgesamt noch nahezu 920.000 ha. Im Jahresdurchschnitt werden heute gut 60 Mio. hl erzeugt, mehr als in jedem anderen Weinbauland der Erde und mehr als ein Fünftel der gesamten Weltweinerzeugung.
Über die Hälfte der italienischen Weinerzeugung kommt heute aus vier großen Weinbauregionen, Sizilien, Apulien, dem Veneto. und der Emilia-Romagna. Etwa halb so groß sind, jährlich knapp 3 bis über 4 Mill. hl, Latium, die Abruzzen, Piemont und die Toskana. 8 Regionen erzeugen jährlich zwischen etwa 1 bis ca. 2,5 Mill. hl (ebenfalls in absteigender Reihenfolge: Kampanien, Marken, Lombardei, Sardinien, Friuli-Venezia Giulia, Trentino-Alto Adige in Südtirol, Kalabrien und Umbrien), und am Ende der Skala, solange es um die Menge geht, rangieren die Basilicata, Molise und Ligurien mit jeweils 300.000 bis maximal über 500.000 hl, und das Schlusslicht bildet das winzige Valle d’Aosta mit um 30.000 hl.
Nicht allein hinsichtlich der Quantität bestehen gewaltige Unterschiede zwischen den einzelnen italienischen Regionen. Bedingt durch die Vielfalt der Klimazonen, der Bodenarten, der Rebsorten, der Weinbaumethoden und der ökonomisch-sozialen Differenzierungen gibt es noch wesentlich tiefgreifendere Unterschiede hinsichtlich der Qualität. Dies wirkt sich einerseits regional aus. Die qualitativ führenden Weinbauregionen des Landes sind derzeit zweifellos Piemont und die Toskana, vielleicht noch Friuli-Venezia Giulia, schon deutlich dahinter und jeweils nur noch sehr partiell Trentino-Alto Adige, Lombardei und Veneto. Zwar kommen gut 40 % der Weinerzeugung Italiens aus dem Süden, doch von den je nach Jahrgang um 9 Mill. hl Qualitätswein kommen nahezu 90 % aus Nord- und Mittelitalien, während der Anteil der Qualitätsweinerzeugung an der Gesamterzeugung im Süden kaum 5 % ausmacht. Ein Reflex dieser Situation sind nicht zuletzt die dramatisch auseinanderfallenden durchschnittlichen Hektarerträge, die in den einzelnen Regionen im Schnitt der letzten drei Jahre erwirtschaftet wurden. So fallen 5 Regionen auf, die im Schnitt zwischen 100 und 140 hl/ha erzeugen: an der Spitze wechseln sich als trauriger Rekordhalter die Emilia-Romagna und die Abruzzen ab und dann jeweils um 100hI/ha das Veneto, Trentino-Alto Adige und Apulien. Auf etwa 60 – 80 hl/ha bringen es im Schnitt, ungefähr in absteigender Folge: die Marken, Sizilien, Friuli-Venezia Giulia, Latium und die Lombardei. 7 Regionen erzeugen im Schnitt zwischen 40 und 60hl/ha: Piemont, Kampanien, Ligurien, Molise, Umbrien, Toskana und Valle d’Aosta. Das Schlusslicht bilden mit unter 40 hl/ha Kalabrien, die Basilicata und Sardinien. Das Menge-Güte-Gesetz drückt sich in diesen Zahlen ebenso aus wie die Unterentwicklung des Südens.
Verkompliziert wird diese Situation noch durch die Besonderheiten der italienischen Weingesetzgebung, um das wenigste zu sagen. Zwar ist diese äußerlich EU-konform und kennt die Einteilung in Tafelweine, Landweine (IGT-Weine) und zwei Stufen von Qualitätsweinen, die DOC- und die DOCG-Weine. Doch in der Praxis sind diese Gesetze für die Kategorisierung der italienischen Weinerzeugung in einer abgestuften Qualitätshierarchie noch über die Problematik der deutschen Weingesetzgebung hinausgehend über größere Strecken hin ungeeignet. Damit ist gemeint, dass die italienischen Weingesetze in ihrer gegenwärtigen Form qualitativ hochrangige Weine von der Einstufung als Qualitätswein ausschließen, weil die Bestimmungen zu starr – und manche Erzeuger in einem positiven Sinn zu dynamisch sind. So ist der wohl bemerkenswerteste Rotwein von Friuli-Venezia Giulia der Schioppettino, der erst mit jahrzehntelanger Verzögerung in die DOC-Bestimmungen integriert wurde und daher lange Zeit ungeachtet seiner exzeptionellen Qualität rechtlich lediglich als Tafelwein deklariert werden konnte. Einer der namhaftesten Weine Siziliens ist der Regaleali, ebenfalls nur ein Tafelwein. Der berühmte Tignanello wird im Gebiet des Chianti classico erzeugt, doch aus etwas anderem Rebsatz und nach abgewandeltem Vinifikationsverfahren: trotz hervorragender Qualität nur ein Tafelwein. Und, fast möchte man schon sagen: natürlich sind auch der Solaia und der Masseto rechtlich nur Tafelweine. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, so dass es mitunter fast so scheinen mag, als wären die Tafelweine die eigentlichen Qualitätsweine.
Dieses ist natürlich so pauschal völlig falsch, doch man wird abwarten müssen, was sich tatsächlich durch das Gesetz vom 10. Februar 1992 über die Neuregelung der Ursprungsbezeichnungen für Wein ändern wird. Immerhin ist inzwischen der Sassicaia auch offiziell zum Qualitätswein aufgestiegen, und unter den mittlerweile über 240 italienischen DOC-Weinen und den ersten 13 DOCG-Weinen gibt es ohne Frage überragende Qualitäten: Barolo, Barbaresco, Vino Nobile di Montepulciano, Brunello de Montalcino, Chianti classico, Torgiano, Breganze, Colli Berici, Franciacorta, Patriglione, Taurasi, Aglianico del Vulture, Amarone u. v. a. Doch richtig ist sicher auch, dass innerhalb vieler DOC-Weine, zumal bei den größeren Gebieten oftmals die Qualitätsschwankungen zwischen unterschiedlichen Abfüllungen des gleichen Jahres erheblich größer sind, als dies bei deutschen oder französischen Qualitätsweinen eines Gebiets der Fall zu sein scheint.
Wichtiger als der Name des Gebiets oder Weins ist daher in allen Fällen der des Erzeugers oder Abfüllers. Gerade angesichts der unbestreitbaren Dynamik des italienischen Weinbaus – er dürfte der dynamischste und ideenreichste in Europa überhaupt sein – und der Defizite der italienischen Weingesetzgebung verbürgt letztlich nur der Mann, der hinter dem Wein steht, dessen wirkliche Qualität, was immer der Name und der rechtliche Status des Weins sein mag. Die Folge davon ist allerdings auch eine kaum noch zu überblickende und ständig weiter ausufernde Fülle von Spezialabfüllungen, sog. Prestigeweinen von z. T. spektakulärer Qualität, aber oft nur wenigen tausend Flaschen, mitunter geboren allein aus Spielerei oder Nachahmungstrieb. Dies trägt zur Imagebildung auch eines Gebietes weniger bei, als wenn es um neue Vinifikations- und Ausbaumethoden geht, wie dies so durchschlagend Giacomo Bologna mit seinem Bricco dell’Uccellone, einem völlig neuartigen und grandiosen Barbera vorexerziert hat oder wenn es um überzeugende Sortenalternativen geht.
Was immer der Wein sein mag, so sind oftmals italienische Weinetikette sehr auskunftsfreudig. So muss die gesetzliche Qualitätsstufe angegeben sein. Ferner wird im allgemeinen das Herkunftsgebiet oder der -ort genannt, bei Spitzengewächsen in wachsendem Maße heute auch der cru, also die Lage (meist als vigna oder vigneto). Je nach Art des Weines wird ferner die Rebsorte angegeben sein, und bei allen besseren Abfüllungen ist es längst üblich, das Jahr auf dem Etikett zu deklarieren. Schließlich wird der Alkoholgehalt, wenn auch mitunter recht pauschal angegeben, eine nützliche erste Orientierungshilfe, da er je nach Wein zwischen 10 und 17 % vol. variieren kann. Bei Qualitätsweinen wird inzwischen häufig zusätzlich ein V.Q.P.R.D. aufgedruckt. Schließlich steht heute bei allen Flaschen meist auf den Rückenetiketten – es sei denn es handelt sich um spezielle Exportaufmachungen – »Non disperdere il vetro nell’ambiente«, was nichts anderes heißt, als das die leere Flasche ordentlich entsorgt werden sollte.
In diesem Zusammenhang scheint noch ein Wort über das trinkfähige Alter und die gegenwärtige Situation italienischer Weine angebracht. Im allgemeinen wird man feststellen können, dass die durchschnittliche italienische Küche, was immer darunter zu verstehen sein mag, junge Weine bevorzugt. Es gibt daher nur vergleichsweise wenige Weißweine, darunter der Clastidium, Fiorano bianco u. a., die 5 – 10 Jahre, z. T. länger reifen können und sollten, und selbst die besten Weißweine des Collio werden heute wie nahezu generell in Italien streng reduktiv im Stahltank ausgebaut, was sie für eine über 5 Jahre hinausgehende Lagerung ungeeignet macht. Diese Entwicklung wird durch den Modetrend zu frischen und säurebetonten Weißweinen gefördert. Weine wie der Clastidum und der Fiorano gehören damit der Vergangenheit an, während heute überall auf den Massenträger Trebbiano gesetzt wird und ihm mit rigoros reduktiven Stahltankausbau der Rest gegeben wird – im Südosten Piemonts feiert der in seiner heute gängigen Form qualitativ kaum viel bessere Cortese ähnlich fröhliche Urstände -, während der Malvasia als bedeutende, uralte Qualitätssorte, die diesen Modetrends nicht entspricht, sich überall auf dem Rückzug befindet. Angesichts dieser Einstellungen und der allgemein praktizierten modernen Vinifikations- und Ausbautechniken stellt auch der ebenso modische Zug zum Chardonnay, die fortschreitende »chardonizzazione«, wie man es in Italien nennt, und die »barriquaggio«, die Barriquomanie, keine wirkliche Gegenbewegung dar, da es an dem Bewusstsein für gehaltvolle, strukturierte, nuancenreiche, sich langsam entwickelnde, komplexe Weißweine weitgehend fehlt.
Sehr viel anders stellt sich die Situation beim Rotwein dar. Zwar werden auch Rotweine in Italien traditionellerweise durchweg jung getrunken, und in der Tat gewinnen nur wenige wirklich durch längeres Lagern und können 8 – 15 Jahre (in wenigen Fällen und Jahren auch älter) werden, so die obengenannten roten Tafel- und Qualitätsweine sowie einige weitere wie der rote Fiorano, der Cirò, Salice Salentino, einige außergewöhnliche Cabernets und Merlots, die meisten Nebbioloweine u. a. Doch gibt es hier im Gegenzug deutliche Tendenzen, mit modernen, Bordeaux mehr oder minder deutlich nachahmenden Rotweinen, den qualitativen, vor allem aber stilistisch den Anschluss an die internationale Rotweinspitze zu finden. Selbst der Chianti classico hat darauf seinen traditionellen Charakter weitgehend einbüßen müssen, und die ständig zunehmende Zahl moderner roter Barriqueweine, vor allem auf der Basis von Cabernet Sauvignon, verdeutlicht diese Richtung.
Seit Ende der achtziger Jahre sind manche dieser Modetrends vorausgegangener Jahre wieder auf dem Rückzug. Auch in Italien stellt man zunehmend eine Rückbesinnung auf klassische Weine fest. Selbst wenn viele Neuanstöße und -entwicklungen sich dabei als beständig erweisen werden, setzt sich bei den gegenwärtigen Korrekturen zunehmend die jahrtausendealte Erkenntnis erneut durch, dass Weine letztlich nicht für Journalisten und Tester gemacht werden, sondern um zumal in Verbindung mit Essen genossen zu werden. Und es ist die große Stärke dieser Art italienischer Weine, die in Vergleichsproben mitunter eher unscheinbar wirken, dass sie in Verbindung mit einem entsprechenden Essen ihre ganze Schönheit offenbaren.